Geschichte des Hauses Kurfürstenstift
Die Geschichte eines Industriedenkmals in Potsdam
Geschichte des Hauses Kurfürstenstift: Als ich mein neues Zuhause im Kurfürstenstift Behlertstraße 29 in Potsdam fand, war vieles unbekannt für mich. Doch war ich neugierig, welche Bezüge zur Vergangenheit sich in diesem alten Gebäude verbargen. Im Sekretariat nachgefragt, erhielt ich einen Schriftsatz mit dem Bescheid: „Frau Lipka weiß das alles!“ Diese war natürlich eine großartige Hilfe bei der Suche nach historischen Fakten, doch einiges war noch nicht hinterfragt worden. Gemeinsam fanden wir schrittweise, unterstützt von anderen Bewohnern wie Dr. Reimund Torge, Dr. Heinz Schulz u.a. viel Neues. Es kam auch eine bestimmte Entdeckerfreude auf, wenn z.B. im Potsdamer Stadtarchiv interessante Adressbücher auftauchten oder in der Unteren Denkmalschutzbehörde alte Baupläne eingesehen werden konnten, die die Geschichte des Hauses Behlertstr. 29 betrafen. Bilder und alte Baupläne des Architekten van Geisten aus Potsdam machten vieles plastisch. So entstand diese Abhandlung. Es zeichneten sich 5 Abschnitte zur Entwicklung des untersuchten Gebäudekomplexes ab:
Das Gelände am Behlertgraben, die Seidenproduktion, die Hustensaftfabrik, der Bau von Präzisionsschlössern, der Umbau zum Seniorenstift.
Abbildung: Potsdam Stadtplan 1765 mit Behlertgraben
1. Das Gelände am Behlertgraben
Südlich des Heiligen See lag ein weites sumpfiges Wiesengelände, das von einem Graben durchzogen wurde, der die Südspitze des Sees in einem weiten Bogen zum Bassin dicht am Holländerviertel führte. Dieser wurde Mitte des 18. Jahrhunderts angelegt und war ein wichtiger Verkehrsweg nach Potsdam als auch eine Entwässerung für das Sumpfgebiet. An der heutigen Kreuzung Kurfürsten/Mangenstr. führte eine Brücke darüber, die die Chaussee von dem Jagdgebiet bei Glienicke mit dem Jagdhof im Norden (s. Jägertor) verband. Der damalige Fährmeister Martin Behlert durfte einen Brückenzoll einnehmen (6Pf. für ein Pferd, 3 für jeden Fußgänger), sodass in der Bevölkerung diese als Behlertstraße bezeichnet wurde. Der Name blieb bis auf den heutigen Tag. An ihr baute Friedrich-Wilhelm II. Anfang des 19. Jahrhunderts ein imposantes Gebäude für seine Geliebte Gräfin Lichtenau und deren formellen Ehemann Ritz. Daneben lag ein kleines Häuschen für den Fährmann. Beide Häuser sind auf alten Landkarten aus der damaligen Zeit erkennbar. Das Wiesengelände gehörte damals dem jeweiligen Besitzer des Palais Lichtenau.
Abbildung: Potsdam Stadtplan 1765 mit Behlertgraben
2. Die Seidenproduktion
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts setzte sich auch in Preußen nach britischem Vorbild die industrielle Entwicklung durch, zwar in Potsdam im Schatten von Berlin mit Borsig in kleinen Schritten. Hier war dabei der Zuckerbaron Jakobs führend, der eine Raffinerie in der Stadtmitte aufbaute und sich für die Entwicklung der Eisenbahn einsetzte. Doch Friedrich Wilhelm IV. grauste vor Fabrikschornsteinen in seiner Residenzstadt. 1849 wurden in Potsdam erst 1015 Industriearbeiter gezählt, davon 212 in einer Gewehrmanufaktur, 209 in der Zuckerfabrik, nur 49 in Tuchfabriken. Doch dass rührige Industriekaufleute an dem beginnenden Trend teilhaben wollten, war nicht verwunderlich. Einer davon war C.Stieff, ein Seidenwarenfabrikant. Dieser kaufte das beschriebene Sumpfgebiet, das jetzt im Volksmund die Bezeichnung „Stieffsche Wiesen“ erhielt. Am Nordrand erbaute man 1831 ein Fabrikgebäude mit einer Länge von 21 Fenstern in Ost-West-Richtung mit einem durchgehenden Walmdach. Die Fassade war glatt verputzt. Im Inneren trennten zwei Querwände, die Mittelachse bildete ein langer Flur. Obgleich die freistehende Fabrik am Rande des Wiesengebiets entstand, war der Untergrund noch so sumpfig, dass auf einen Keller verzichtet werden musste.
Stieff mag wohl ein kluger Kaufmann gewesen zu sein, aber für eine rentable Seidenproduktion scheint es nicht immer gereicht zu haben. Er suchte immer wieder Kontakte zu kundigen Mitstreitern. 1842 wird in einem alten Adressbuch ein Th. Hans Haras als Teilhaber genannt, später wird ein fachlich versierter Werkmeister Stelzer ausgewiesen. Bevor dann endgültig „Pignol und Heiland“ die Produktion erfolgreich führten. Stieff wohnte zu diesem Zeitpunkt als Partikular (vermögender Rentier) in einem Nebengebäude in der Behlertstraße. Die weitere Entwicklung zeigte, dass der Betrieb immer wieder neue Wege einschlug. So wurden 1850 Wohnungen für Arbeiter mit einem separaten Eingang im Ostteil eingerichtet, sodass auch kundige Arbeitskräfte aus Schlesien für das Produktionsgeschehen gewonnen werden konnten. Das weist das damalige Adressbuch aus: 10 Arbeiter (Seidenwirker, ein Schneider), aber auch 4 Witwen. Hier kann es sich nur um billige Arbeiterinnen gehandelt haben. Da sich auch in der Umgebung Seidenwirker angesiedelt hatten, kann man in der Seidenherstellung dieser Fabrik mit bis zu 25 Arbeitskräften rechnen. 1896 konnten die Besitzer nach Bau des städtischen Klärwerkes das Gebäude endlich an die Kanalisation anschließen und modernere Aborte errichten. Auch die spätklassizistischen Applikationen an den sieben Fenstern des Wohndrittels wurden abgetragen, Sanitäranlagen und ein Fahrzeugschuppen erweiterten das Gebäude im Westen. Immer wieder musste das Produktionsgeschehen verbessert werden. So wurden 1910 Wandlungen notwendig. Tragende Wände wurden durch Eisenkonstruktionen ersetzt, um Platz für höhere Webstühle zu schaffen. 1920 gab es nochmals erneut Umbauten. Der Kommerzienrat Friedrich wird als Besitzer der Fabrik ausgewiesen. Nach langen Jahren einer ergiebigen Produktion, traten Probleme auf. Die Nachkriegswirtschaft und die Konkurrenz aus Sachsen führten zu einem empfindlichen Rückgang. So standen Mitte der Zwanzigerjahre des 20. Jahrhunderts die Fabrikhallen leer.
3. Die Hustensaftfabrik
1925 wird das nicht mehr genutzte Fabrikgebäude von der pharmazeutischen Firma Emil Taeschner gekauft und der Architekt Otto Rudolf Salvisberg zusammen mit dem Ingenieur C.P. Baumgarten gewonnen, dieses zu einer modernen Produktionsstätte umzugestalten. Salvisberg war bekannt für eine typische Bauweise in der Nachkriegs-Moderne durch viele Berliner Objekte. Taeschners müssen vermögend gewesen sein. So erwarben sie auch 1914 die Burg Kipfenberg in Bayern und restaurierten sie bis 1924. Das Leben des Apotheker Taeschners ist höchst interessant. Er übernahm 1889 in BerlinCharlottenburg unweit der Leipziger Straße die Kommandanten-Apotheke. Im angeschlossenen Labor erforschte er neue Heilmittel. Besonders untersuchte er die Heilwirkung der Thymian-Pflanze bei Husten-Erkrankungen, ein schon im Mittelalter bekanntes Mittel. Das nach modernen Gesichtspunkten entwickelte Präparat erhielt die Bezeichnung Pertussin.
Abbildung: Taeschners Pertussin-Bonbons (Blechschachtel)
Es wurde über ausgesuchte Apotheken in den Handel gebracht. Die moderne Wissenschaft wurde aufmerksam, sodass eine umfangreichere Herstellung infrage kam. Emil Taeschner verstarb 1900. Vorerst übernahm seine Witwe Anna T. mit fachkundiger Unterstützung eines Apothekers die Leitung. Das Interesse der pharmazeutischen Industrie für das Heilmittel veranlasste die Errichtung einer chemisch-pharmazeutischen Fabrik. 1920 waren die Inhaber der Apotheker Karl E. Taeschner, der weiterhin die Apotheke in Berlin leitete, der Professor Dr. Franz Taeschner sowie Frau Maria Dobroschke, geb. Taeschner, denen ab 1924 deren Gatte, ein ehemaliger Pädagoge, als Betriebsdirektor zur Seite stand.
Abbildung: Familie Taeschner 1924
Bedingt durch den Verlust von Absatzmärkten durch den Ersten Weltkrieg und Nachkriegsprobleme, u.a. durch Auswirkungen der Inflation stagnierte erst der Absatz. Die Erholung der Weltwirtschaft ab 1924 ließen dann neue Vorhaben möglich werden. Die Firma Taeschner kaufte so das leere Fabrikgelände im preiswerten Potsdamer Raum für eine erweiterte Produktion. Zur gleichen Zeit wurde auch eine Erzeugnisstätte für den pharmazeutischen Artikel „Ohropax“ von Berlin nach Potsdam verlegt. Salisberg und Baumgarten gaben dem Werkgelände ein modernes Aussehen, ohne den Charakter des Hauses aus dem 19. Jahrhundert grundlegend zu verändern. Die Fenster bekamen eine gleichmäßige Rahmung und wurden mit Sprossen gegliedert. Es entstand ein Haus, in dem Altes mit dem Baustiel der Moderne vereint wurde. An Stelle des Treppentrakts wurde ein so genannter Laboratoriumsbau an der Westseite angefügt, die Ostseite erhielt einen rechteckigen Ausbau, sodass ein Innenhof entstand. Dieser gab der Industrieanlage einen geschlossenen Raum für Produktion, Forschung und Wohnen, denn im Ostflügel wurden zwei große Wohnungen für die Besitzer eingerichtet sowie zwei kleinere Wohneinheiten für Pförtner, Betriebsschlosser, im Westen eine Garage mit Unterkunft für den Kraftfahrer und Lagerhallen. Die Fabrik erhielt einen rötlichbraunen Rauputz.
Abbildung: Hustensaftfabrik E.Taeschner 1927 in Potsdam
Besonders interessant für den künstlerischen Wert des Gebäudes ist die Einrichtung der beiden Hauptwohnungen, die nobel ausgestattet waren. In alten Grundrissen erkennen wir einen großzügig eingerichteten Wohnteil: Wohnzimmer und Bibliothek, Esszimmer und Raum mit Anrichte, Küche mit dem Heim für das Dienstmädchen sowie ein Teil für die Kinder mit separaten Räumen für Jungen und Mädchen, Kindermädchen und Spielzimmer. Das Herrenzimmer lag hinten dicht neben den Büros des Wirtschaftsteils. Aber besonders wertvoll ist die vielschichtige Innenausstattung: Parkett, Stuckdecken, Wandschränke. Für den heutigen Betrachter ist die unterschiedliche künstlerische Ausstattung beider Wohnungen etwas rätselhaft: eine würdevoll mit tiefroter Tapete, wuchtigem Kamin, die andere aufgelockerter mit Verzierungen in fremdartigem Stil (südamerikanisch oder morgenländisch?). Die weichen Formen des Jugendstils scheinen durch kantige der Moderne ersetzt zu sein.
Abbildung: Noch heute vorhandene Gestaltungselemente in dem Wohnteil der einstigen Besitzer
Maria Dobroschke sah es als ihre Pflicht als Eigentümer eines Unternehmens in Potsdam an, künstlerisch dort aktiv zu werden. In ihren Räumen fanden Treffen und Vorträge zu Fragen von Kunst und Philosophie statt. So bekamen die Fabrikanten-Wohnungen in der Behlertstraße eine besondere Wertschätzung in Potsdam. Sie selbst war als Schriftstellerin und Malerin aktiv.
Abbildung: Logo E.Taeschner in den 30er Jahren
In der neugestalteten Produktionsstätte nahm 1927 die pharmazeutische Fabrik Taeschner die Herstellung des Arzneimittel Pertussin und ähnlicher Produkte in großem Stil auf. Das Hustenmedikament wurde als Sirup, Tropfen, Bonbons und in anderer Form fabriziert. Auch Nasenmittel kamen auf den Markt. Die Herstellungslinie umschloss moderne Maschinenräume, Fließbandarbeit zur Gestaltung der Medikamente, einen Flaschenbereich mit Spüleinrichtungen, ein großzügiges Laboratorium für weitere Forschungen, eine Verpackungseinrichtung, sogar eine eigene Werkdruckerei.
Abbildungen: Fließbandarbeit in dem Fabrikgebäude und Laboratorium im neuen Anbau
Ein modernes Haus gegenüber in der Behlertstr. 4b wurde als Erweiterung gebaut. Weitere Absatzgebiete im In-und Ausland konnten beliefert werden. Zum 50 jährigen Jubiläum 1939 wurde stolz festgestellt: „Es wird Aufgabe der Firma Taeschner sein und bleiben zu ihrem Teil an dem Weltruf der deutschen pharmazeutischen Industrie mitzuarbeiten.“ Auf überlieferten Bildern sind die drei Besitzer in einem Blumenmeer im Nebenraum zu sehen, auch die Mitstreiter aus Produktion und Absatz auf den Treppenstufen zum Gartenteil.
Abbildung: Fabrikinhaber 1939 in ihrer Wohnung und Gratulanten zu 50 Jahre E.Taeschner 1939 an der Treppe der Fabrikantenvilla
1938 wird ein „Belegschaftsraum“ in „Blut-und-Boden-Manie“, wie es im Bauantrag hieß, eingerichtet. Dieser war damals über dem Lager mit klobigen Holzmöbeln ausgestattet. Es scheint heute, dass die Genehmigung für das Baumaterial in der Zeit der intensiven Kriegsvorbereitung nur so ermöglicht werden konnte. Jedes Zeitalter hinterließ so seine Spuren, auch die propagandistischen Ansichten des NS-Regimes.
Abbildung: Saal in „Blut und Boden Manie“ 1938
Den Zweiten Weltkrieg überlebte das Werk zwar unversehrt, doch waren einige Absatzmärkte im Ausland vorerst verloren, aber die verbliebenen u.a. in Australien ließen Begehrlichkeiten beim DDR-Außenhandel aufkommen. So wurde das Unternehmen 1951 vorläufig unter sogenannte Treuhand gestellt, da der Apotheker Taeschner schwer erkrankt war, Frau Maria Dobroschke als alleinige Eigentümerin in West-Berlin nicht erreichbar war. Sie hatte sich verständlicherweise dorthin begeben, da die DDR-Behörden mit Wirtschaftsverfahren drohten. Endgültig 1952 wurde der Betrieb „in staatliche Verwaltung“ genommen, also enteignet. Das Produkt „Pertussin“ war für den DDR-Handel sehr wichtig, bis 1971 wurde es von der VEB Chemisch-Pharmazeutischen Fabrik Potsdam weiter in der Behlertstraße produziert. Erstaunlicherweise blieb das TaeschnerLogo im Briefkopf erhalten, eine gute Handelsmarke also.
Dann übernahm ein ähnliches Werk in Rüdersdorf bei Berlin die Produktion und führt sie bis jetzt. Pertussin wird über Apotheken noch heute ausgeliefert und gilt als typisches „Ostprodukt“. Doch produzierte die Familie ihr gesamtes Arzneimittelprogramm nach Kriegsende in Kipfenberg/Bayern, in dem Ort, in dem sie die Burg als Eigentum besaß. Dort wurde schrittweise eine moderne Produktionsstätte aufgebaut, wo, wie in Potsdam, pharmazeutische Präparate hergestellt wurden, besonders Hustenmittel auf Pertussin-Basis, aber auch Nasentropfen und Mittel gegen lästigen Juckreiz. Im Werk arbeiteten bis zu 50 Mitarbeiter. Eine Zweigstelle verblieb in West-Berlin. Die Familie Taeschner-Dobroschke fand in der fränkischen Gemeinde hohe Anerkennung, nicht nur als Burgbesitzer und Unternehmer bis 1988, sondern auch für ihr soziales Engagement beim Bau einer Wasserleitung, einer Spende für die Reparation des Kirchturms, auch für die Stiftung eines Anna-Taeschner-Fonds „für bedürftige Wöchnerinnen“ und der Herausgabe der Schrift „Geschichte der Burg Kipfenberg“ durch Prof. Dr. Taeschner. Die Familie unterstützte den heimischen Trachtenverein, der als Dank das Familiengrab noch heute pflegt. Die beiden Brüder Taeschner und die Familie Dobroschke wurden Ehrenbürger der Gemeinde.
Abbildung: Burg Kipfenberg, Neue Fabrik in Kipfenberg, Anna-Taeschner-Fond in Bayern
Abbildung: Familien-Grabstätte Taeschner-Dobroschke auf dem Friedhof Kipfenberg
4. Der Bau von Präzisionsschlössern
Das verbliebene Fabrikgelände in Potsdam wurde ab den siebziger Jahren zum Bau von Präzisionsschlössern von einem volkseigenen Betrieb genutzt. Die Arbeit war weitaus schmieriger und öliger als bisher, doch sind die ehemaligen Arbeiter noch heute stolz auf ihre exaktes Wirken. Zur Erweiterung der Produktion wurden zwei weitere Gebäude gebaut: ein dreigeschossiger Langbau in Skelettbauweise und eine hohe Werkhalle. 1998 wurde das Unternehmen von der westlichen Konkurrenzfirma BAB-Ikon Zylinderschlösser übernommen, die bis 2005 dort produzierte. Doch schon 1999 war das gesamte Gelände in das Denkmalverzeichnis des Stadt Potsdam eingetragen. Ziel war und bleibt es bis heute, dieses Potsdamer Industriedenkmal zu erhalten und einer neuen Bestimmung zuzuführen.
5. Der Umbau zum Seniorenstift
Nun stand wieder das Fabrikgelände leer. Die Verwaltung übernahm nach Beendigung der Produktion die „Norddeutsche Boden AG“ aus Oldenburg. Potsdam wurde immer mehr am Rande der deutschen Hauptstadt Berlin ein Touristenschwerpunkt wie eine Verwaltungsstadt für das Land Brandenburg, sodass wenig Interesse für industrielle Produktion bestand. Aber es muss Bedarf für altersgerechtes Wohnen bestanden haben. Das Gebäude scheint viele gute Voraussetzungen dafür geboten zu haben. So wurde 2008 dem Architektenbüro „Van Geisten / Marfels“ in Potsdam der Auftrag erteilt, dort aus einer ehemaligen Produktionsstätte Wohnungen für alte Menschen zu gestalten.
Die architektonische Verantwortung übernahm der Architekt Eric van Geisten mit seinem Partner Georg Marfels. Sie arbeiteten hierbei mit Sabine Ambrosius von der Unteren DenkmalschutzBehörde der Stadt Potsdam zusammen. Das schmutzige Gebäude, in dem durch den unteren Flur noch eine lange Schiene lief, sah wenig einladend aus. Es war ein verlassener Bau. Es galt unter Wahrung der historischen Bausubstanz möglichst viele kleine Wohnungen zu schaffen. Sie sollten aus Wohn- und Schlafzimmer, Kochnische und Bad, evtl. auch Abstellraum und Eingang bestehen , möglichst mit hellen offenen Vorbauten versehen sein. In dem unteren Stock wurde der durchgehende Flur genutzt, zu den oberen Ebenen führten die vorhandenen Treppen und neu eingefügte Aufzüge. Zu jeder Wohnung sollte es einen sonnigen Außenvorbau geben. Da die Nordseite dazu wenig geeignet war, bot sich nur der Südteil an. Dort wurden Terrassen und Balkone geschaffen. Auch das Dachgeschoss wurde voll für den Wohnungsbau erschlossen, durch geschickte Einschnitte in die südliche Dachkonstruktion Altane gebaut. Beim einstigen Laborbau wurden aber durch vorsichtige Einschnitte und erweiterter Fenstergestaltung die alten Formen weitgehend erhalten.So wurden viele kleine Wohneinheiten bald gleicher Größe, aber mit unterschiedlichem Schnitt geschaffen, wobei die Wohnräume im Süden, die Schlafgelegenheiten im Nordteil lagen. Durch weite Türen und ebenen Fußboden war das Heim altersgerecht.
Abbildung: Baustelle 2009 und Luftaufnahme Dr. Schulz 2011
Auch die Anbauten der Westseite wurden umgestaltet. Aus den ehemaligen Garagen entstand ein geräumiges Restaurant, darüber eine zusätzliche Wohnung, auch Räume für Kosmetik und Krankengymnastik, zum Haupthaus hin ein weiträumiger Empfang, ein Klubraum als Mittelpunkt. Aus einem Industriebau entstand so ein modernes Ensemble für ältere Menschen, wo sie in unterschiedlicher Selbstständigkeit ihren Lebensabend vollbringen können.
Abbildung: Kurfürstenstift Südseite mit Terrassen, Balkons und Dacheinschnitten 2019
Interessant ist auch die weitere Gestaltung der ehemaligen Fabrikantenwohnungen. Diese waren nach Ende des Zweiten Weltkrieges vielseitig genutzt worden. Ältere Bürger Potsdams berichten, dass dort zeitweise Ausgewiesene aus den deutschen Ostgebieten untergebracht wurden, je Familie ein Raum, gemeinsame Küchennutzung. Dann wohnten laut Adressbuch von 1949 neben den Eigentümern ein Schauspieler, ein Schriftteller , ein Architekt, eine Malerin, das könnte auf den Einfluss von Maria Dobroschke hinweisen. In der Zeit der technischen Nutzung waren dort Büros besonders für Konstrukteure untergebracht. Doch ist die besondere Gestaltung geblieben. 1999 war das dem Denkmalschutz sehr gelegen gewesen. Bei der Umgestaltung blieben alle künstlerischen Elemente in beiden Wohnungen erhalten, wenn auch diese kleiner geschnitten wurden. Sogar die wuchtige Außentreppe wurde wieder rekonstruiert.
Abbildung: Ehemalige Fabrikantenvilla Gestaltungen vor Neuvermietung 2019
So gelang es den Architekten van Geisten und Marfels, die Grundgestaltung der alten Fabrik aus dem späten Klassizismus zu erhalten, die Weitergestaltung von Salvisberg/Baumgarten zur Moderne fortzuführen und so ein neuzeitliches Ensemble zu schaffen. Das wurde abgerundet durch die geschickte Einbeziehung eines in Skelettbauweise gestaltetem Bau aus der DDR-Zeit an der Südseite des Innenhofes. Dieser wurde vollkommen entkernt, das System der Fenster gemäß der Moderne unterschiedlich je Stockwerk gestaltet, seitliche Balkons geschaffen und durch eine mittlere Einschnürung eine glatte Bauweise vermieden. So entstanden 21, bald gleich geschnittene Wohnungen, ein weites Treppenhaus mit gemütlichen Sitzecken und einem geräumigen Aufzug. So können im Februar und März 2010 die ersten Senioren – zwei Familien – im Kurfürstenstift, so heißt die Einrichtung nach dem nahen Straßennamen, einziehen. Die seit Jahren lebende Bewohner des Kurfürstenstifts würdigen heute sowohl die bauliche Gestaltung als auch die altersgerechte Atmosphäre zwischen möglicher Selbstständigkeit und betreuender Hilfe.
Abbildung: Haus A 2019 und Westbau Südseite (frühere Fabrikantenvilla)
Die seitliche Produktionshalle wurde später abgerissen. Auf dem Platz wurde dann ein zweistöckiges Wohnhaus für 14 Wohnungen, altersgerecht mit Fahrstuhl, erbaut. In einer Einheit des Kurfürstenstifts wurde ein Pflegestützpunkt eingerichtet, sodass ambulante Leistungen angeboten werden konnten. Es wirkt trotz gleichartiger Fenstergestaltung doch etwas abseits, schloss aber das Gelände zum Palais Lichtenau ab.
Abbildung: Kurfürstenstift 2019
Das Gebäude Behlertstrasse 29 ist mit Recht ein Denkmal zur Industriegeschichte Potsdams. So wurde es auch am „Tag des offenen Denkmals 2019“ von der Denkmalschutzbehörde Potsdams vorgestellt. Das Haus Kurfürstenstift spiegelt die Produktionsentwicklung vom 19. bis zum 21. Jahrhundert wider, gleich ob es sich um die beginnende Industrialisierung der Stadt, den Übergang zur pharmazeutischen Produktion nach dem Ersten Weltkrieg als auch die nur geringen bautechnischen Einflüsse der NS Zeit oder der Enteignung privater Besitzer in der DDR handelt. Historisch interessant ist auch die heutige Nutzung als Seniorenresidenz. Die gelungene Einheit von Alt und Neu belegt den kultur- historischen Wert. Obgleich das Bauwerk unterschiedlich genutzt wurde, blieb die Grundkonstruktion immer erhalten, ließ aber später spezielle Anforderungen stets erkennen. Die künstlerische Bedeutung lässt sich an speziellen Gegebenheiten erkennen. Obgleich die spätklassizistische Grundkonstruktion erhalten blieb, wird dank der geschickten architektonischen Arbeit von Salvisberg und Baumgarten die Anforderungen der Nachkriegs-Moderne sichtbar, van Geisten und Marfels führen diese weiter zu den heutigen Ansprüchen an das Bauwerk. Die Gestaltung der Fabrikantenwohnungen lässt den künstlerischen Geschmack des Besitzbürgertums noch heute erkennen. Das Haus hat auch in der Mitte des 20. Jahrhunderts durch die Initiative von Maria Dobroschke eine Bedeutung im kulturellen Leben Potsdams. So ist es bei neuzeitlicher Nutzung ein über die Zeiten interessantes Bauwerk in der Nauener Vorstadt.
Fakten recherchiert und zusammengetragen von Herrn Dümcke.